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Ein Jahr Mindestlohn: Streit neu entbrannt

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Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde: Das ist in Deutschland seit Anfang des Jahres die Regel. Doch um Ausnahmen wird weiter gerungen. Zuletzt ging es um die Bezahlung von Flüchtlingen. Doch auch hier streiten die Ökonomen.
Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde: Das ist in Deutschland seit Anfang des Jahres die Regel. Doch um Ausnahmen wird weiter gerungen. Zuletzt ging es um die Bezahlung von Flüchtlingen. Doch auch hier streiten die Ökonomen. © dpa

Vor einem Jahr wurde in Deutschland der Mindestlohn eingeführt. Jetzt ist der alte Streit über die Lohngrenze von 8,50 Euro neu entbrannt – diesmal liefern sich Ökonomen eine hitzige Diskussion. Grund ist der Zuzug hunderttausender Flüchtlinge.

München – Am 1. Januar dieses Jahres wurde der flächendeckende Mindestlohn eingeführt, die gößte Arbeitsmarktreform seit Inkrafttreten der Hartz-IV-Gesetze. Seitdem gilt – von ein paar Ausnahmen abgesehen – für alle Beschäftigte eine Lohnuntergrenze von 8,50 Euro. Gewerkschafter und Arbeitgeberverbände hatten sich jahrelang erbittert über Sinn und Unsinn eines solchen Gesetzes gestritten. Bis heute liegen sie im Clinch. Jetzt geht der Streit in eine neue Runde. Diesmal wird er nicht zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern augefochten, neuderdings streiten sich die deutschen Wirtschaftswissenschaftler, ob wegen des Zuzugs von geschätzt einer Million Flüchtlinge in diesem Jahr am Mindestlohn gerüttelt werden sollte. Im Kern geht es um folgende Forderungen:

Generelle Absenkung des Mindestlohns

Eine generelle Absenkung des Mindestlohns fordert seit Monaten der scheidende Chef des Münchner Ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn. Der Ökonom vertritt die Ansicht, ein hoher Mindestlohn behindere die Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt. Sein Argument: Die Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, seien schlecht qualifiziert und hätten Sprachprobleme. Der Anteil der Analphabeten sei hoch, ihre Produktivität gering. Also bräuchten sie entsprechende Jobs. Die gebe es aber nur, wenn man kräftig an der Lohnschraube dreht – und zwar nach unten. Mit dieser Ansicht ist Sinn nicht allein. Beispielsweise hatte sich der Chefvolkswirt der Deutschen Bank, David Folkerts-Landau, ähnlich geäußert.

Befristete Ausnahme für Flüchtlinge

Flüchtlinge sollen für zwölf Monate vom Mindestlohn ausgenommen werden – das fordert der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Die sogenannten Wirtschaftsweisen plädieren in ihrem Jahresgutachten für eine entsprechende Änderung des Mindestlohngesetzes. Dazu muss man wissen, dass bereits heute eine ähnliche Ausnahme existiert – allerdings gilt sie für Langzeitarbeitslose und dauert sechs Monate (§ 22 Abs. 4 MiLoG). Nach dem Willen der Sachverständigen sollen Flüchtlinge, die als „arbeitssuchend“ registriert sind, formal als Langzeitarbeitslose betrachtet werden. Damit wären sie vom Mindestlohn ausgenommen. Im Mindestlohngesetz müsste man lediglich die Ausnahmefrist von sechs auf zwölf Monate erhöhen.

Der Plan geht mit einer zweiten Forderung einher: Wegen der Einwanderer sollte der Mindestlohn im kommenden Jahr auf keinen Fall erhöht werden – denn das ist wahrscheinlich: Gesetzlich ist die zuständige Mindestlohnkommission verpflichtet, bis zum 30. Juni 2016 eine Anpassung zu beschließen.

Nur ein Wirtschaftsweiser lehnt es ab, am Mindestlohngesetz herumzudoktern: Der Würzburger Ökonom Peter Bofinger hält nicht viel von den Pläne seiner Kolleginnen und Kollegen. „Ich kann mir lediglich vorstellen, dass Flüchtlinge wie Langzeitarbeitslose behandelt werden“, sagt er. Allerdings nach geltendem Recht – also sechs Monate lang.

Auf keinen Fall am Mindestlohn rütteln

Der Kölner Wissenschafler Hagen Lesch warnt ebenfalls davor, am Mindestlohngesetz zu rütteln – allerdings mit einem anderen Argument. Lesch ist beim arbeitgebernahen Institut der Deutschen Wirtschaft für Tarifpolitik zuständig und sieht den Mindestlohn als hervorragendes Steuerungsinstrument, um bei Flüchtlingen für Bildung zu sorgen. Das klingt paradox, Lesch begründet es so: Für viele einfache Tätigkeiten gelten schon heute tarifliche Branchenmindestlöhne. Beispielsweise in der Zeitarbeit, im Sicherheitsgewerbe oder in der Gebäudereinigung. Weil das untere Lohnsegment durch Tarifverträge zementiert ist, kann es auf Änderungen des Mindestlohns kaum reagieren. Lesch vermutet daher, dass ein Absenken der Lohnuntergrenze zu keiner nennenswerten Mehrbeschäftigung führen wird. Die deutschen Betriebe bräuchten ohnehin keine einfachen Hilfsarbeiter, sondern qualifizierte Fachkräfte. Und hier kommt der Mindestlohn ins Spiel: Weil viele Flüchtlinge für fünf oder sechs Euro wegen des Mindestlohns keinen Job fänden, bliebe ihnen gar nichts anderes übrig, als sich zu qualifizieren, glaubt Lesch. Der Mindestlohn sei daher für Flüchtlinge ein Anreiz, zu lernen und sich zu bilden.

Der Streit der Experten ist nicht neu

Dass Wirtschaftswissenschaftler in der Frage des Mindestlohnes alles andere als einer Meinung sind, ist nicht neu. Schon in den Jahren vor der Einführung konnten sich selbst die Wirtschaftsweisen nie auf eine einheitliche Linie verständigen. Vier Sachverständige warnten jedes Jahr aufs Neue vor den negativen Folgen des Mindestlohns – und jedes Jahr konnte man sich darauf verlassen, dass Bofinger widersprach. Die Arbeitslosenstatistik im November schien ihm Recht zu geben: Bundesweit waren mehr als 2,6 Millionen Menschen ohne Job – 84 000 weniger als ein Jahr zuvor.

Im diesjährigen Gutachten, räumten selbst die vier Skeptiker ein: „Bislang seien keine gravierenden gesamtwirtschaftlichen Folgen der Einführung des flächendeckenden Mindestlohnes zu beobachten gewesen.“ Aber: Eine seriöse Bewertung sei derzeit noch nicht möglich. „Es wird erst in zwei oder drei Jahren möglich sein, die tatsächlichen Wirkungen zu beobachten“, sagt der Freiburger Wirtschaftsweise Lars Feld.

Trotzdem erwartet auch er mit Spannung eine großangelegte Studie des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Sie soll schon kommendes Jahr erste Zahlen liefern. Bisher war nur zu beobachten: In den ersten beiden Quartalen 2015 ist die Zahl der ausschließlich gerinfügig Beschäftigten um mehr als 150 000 gesunken – während gleichzeitig sozialversicherungspflichtige Beschäftigung aufgebaut wurde. Strittig bleiben die genauen Zusammenhänge von Ursache und Wirkung.

Von Sebastian Hölzle

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