Drei Millimeter entschieden über Sarahs Leben
Traunstein/Bad Reichenhall - Wir berichten aktuell vom dritten Prozesstag gegen Christoph R.: Sarah, das zweite Opfer der Blutnacht, hat ausgesagt - und den Angeklagten als Täter identifiziert!
Die wichtigsten Erkenntnisse des dritten Prozesstages:
- Eine Freundin von Sarah berichtet von der letzten SMS, die Sarah vor dem Angriff schickte. Sie sei in zwei Sekunden daheim, stand da. Und: "War ein cooler Abend!"
- Sarah, das zweite Opfer der WM-Nacht, sagt vor Gericht aus. Sie schildert die fürchterlichen Ereignisse im Detail und identifiziert den Angeklagten als Täter.
- "Wenn ich jetzt nichts mache, dann sterbe ich": So beschrieb sie ihre Gedanken beim Todeskampf gegen den Angreifer.
- Sarahs Mutter sagte im Zeugenstand aus, dass ihre Tochter weiterhin ein lebenslustiger Mensch sei und durch ihren Freund Halt bekomme. Dennoch leide sie unter Angstzuständen.
- Polizisten sagten über die Beweisaufnahme am Tatort aus. Sie berichteten von langen Blutspuren und einem Zeugen, der mitteilte, dass sich der Täter als "Nachtwanderer" bezeichnete - der Rollenspielname von Christoph R.
UPDATE 15.15 Uhr: Aussage eines Gerichtsmediziners
Ein weiteres Indiz, das auf Christoph R. als Täter hinweist: Ein Gerichtsmediziner verglich die Verletzungen beider Opfer, am Nachmittag spricht er vor dem Traunsteiner Landgericht: "Die Stichverletzungen bei den Opfern sind sehr ähnlich." Allein deshalb könne vom selben Täter und der selben Tatwaffe ausgegangen werden.
Ein direkter "Schädeldurchstich" wie bei Alfons gelang dem Täter beim zweiten Opfer aber nicht: "Sarahs Schädel ist drei bis vier Millimeter dicker und damit stabiler". Drei bis vier Millimeter, die in der Tatnacht womöglich über Leben oder Tod entschieden haben. Aber auch ihr wurde ein kleines Stück Schädelknochen "herausgesprengt", wie es der Gerichtsmediziner nennt. All diese Details hören auch Sarahs Mutter Eva-Maria und Sarah selbst. Beide kamen am Nachmittag wieder als Zuhörerinnen in den Gerichtssaal.
Messerangriffe direkt in die Augen hat der Gerichtsmediziner erst einmal erlebt - "bei einer Attacke der Rockerbande 'Bandidos' in Stockholm", wie er anmerkt. Den großen Blutverlust führt der Gerichtsmediziner vor allem auf die Messerattacke in die Brustregion von Sarah zurück. Der Täter erwischte eine Arterie und ritzte sie an. Wie lange kann man mit einer solchen Verletzung überleben? "Ab einer halben Stunde wird's kritisch", so der Gutachter. Anwohner und Sanitäter haben in dieser außergewöhnlichen Situation anscheinend absolut richtig - und vor allem schnell - gehandelt.
Sarahs behandelnder Augenarzt aus Salzburg wird in den Zeugenstand gerufen. Drei Monate brauchte sie, damit sich ihre Wahrnehmung auf die "funktionelle Einäugigkeit" einstellte - danach stand dem Führerschein nichts mehr im Wege, ihr Augenarzt gab grünes Licht. Für ihr linkes Auge besteht dagegen auch langfristig wohl keine Hoffnung mehr. Die geschilderten Details der Augenverletzungen gehen unter die Haut - letztlich berichtet der Augenarzt von + 16 Dioptrien: "Keine Operation würde da noch etwas helfen."
Mit diesem Fazit wird der dritte Verhandlungstag vor dem Traunsteiner Landgericht beendet. Er war zu bewegend, als dass sich die Zuhörer einfach von ihren Sitzen erheben und nach Hause gehen würden. Viele können und wollen ihre Augen nicht abwenden, als sich Christoph R. wieder von der Anklagebank erhebt und ein Polizist die Handschellen wieder zum Klicken bringt.
Am Dienstag um 9 Uhr wird der Prozess fortgeführt. Auch dann werden wir wieder aus dem Gerichtssaal berichten. Eine ganze Reihe an Zeugen steht auf der Liste von Richter Weidmann - es sind die ehemaligen Kameraden und Zimmerkumpanen des Tatverdächtigen. Was sie sich wohl dachten, als sie Christoph R. mit dem Messer bewaffnet losmarschieren sahen?
UPDATE 13.15 Uhr: Mutter beschreibt, wie der Angriff Sarahs Leben veränderte
In Kürze online:
Video mit Statement vom Nebenkläger!
Sarahs Mutter Eva-Maria tritt vor den Richter: Auch für sie alles andere als eine leichte Aufgabe. Sie erzählt von Sarahs erstem Anruf aus dem Krankenhaus: "Ich muss dir sofort alles erzählen", sagte ihr Sarah am Telefon - denn die junge Frau fürchtete auch noch in der Salzburger Klinik, dass sie den Angriff aus der WM-Nacht nicht überleben würde: "Danach hat sie Personenschutz bekommen, weil der Täter ja noch nicht gefasst war."
"Sie ist ein lebenslustiger Mensch", so ihre Mutter: Vor allem das eigene Auto half ihr, doch den Tatort meidet sie weiter strikt. Aber auch Eva-Maria leidet nach wie vor: Nachts konnte sie oft nicht mehr schlafen. Wenn Sarah das Haus verlässt, bekommt sie es mit der Angst zu tun. Die Mutter besucht immer wieder die Psychotherapie und geht zur Hypnose.
Im ersten halben Jahr nach der Tat habe Sarah die Öffentlichkeit gemieden, auch heute noch ließe sie sich durch das Nachtleben nicht mehr so locken wie früher: "Aber sie hat einen Freund, der ihr Halt gibt."
Weitere Polizisten werden nun geladen, die die Spuren und Tatorte sicherten. Einer vernahm den Zeugen, über dessen Grundstück Christoph R. in der Tatnacht geschlichen sein soll. Die Schuhe konnte er sehr exakt beschreiben: "Und der Zeuge sagte, dass sich der Verdächtige als ,Nachtwanderer' bezeichnet hätte. Wir dachten da zuerst an irgendeine phantastische Geschichte." Doch diese "phantastische Geschichte" hat wohl durchaus einen realen Hintergrund: Bereits am Dienstag wurde bekannt, dass "Nachtwanderer" der Rollenname von Christoph R. im Computerspiel "Skyrim" war.
Ein weiterer Ermittler berichtet von den Blutspuren, die sich quer über die Berchtesgadener Straße zogen. Dem Ort, an dem Sarah niedergestochen wurde. Bei der Auseinandersetzung wurde ihr außerdem die Jacke heruntergerissen, mit dem Messer wurde ihr die Handtasche auseinandergeschnitten.
Die Ermittler zeigen erneut den schwarzen Kapuzenpullover, den Christoph R. in der Tatnacht getragen haben soll. Ein großer blauer Aufdruck ziert die Vorderseite. Schlau wollte der Täter sein und wendete den Pullover "auf links" um den auffälligen Aufdruck zu verstecken.
Es half ihm wohl nichts, sofern Christoph R. der Täter ist. Er sitzt nun auf der Anklagebank - ein Beweisstück mehr, das heute vor Gericht landete und ihn einem möglichen Schuldspruch näher bringt.
Zwei weitere Gutachter und Sachverständige werden auch am Nachmittag wieder Details zu den Gewaltverbrechen aus der WM-Nacht beitragen.
Bilder vom dritten Prozesstag:
UPDATE 11.05 Uhr: Opfer Sarah schildert die dramatischen Ereignisse
Sarah betritt den Gerichtssaal: Cardigan, Strumpfhose und Rock ganz in schwarz, weiße Bluse, Ohrringe, rotbraune kurze Haare, Brille. Richter Weidmann geht behutsam mit ihr um, stellt ihr alle Personen am Richterpult vor. Christoph R. blickt in ihre Richtung, ruhig wie immer. 18 Jahre ist sie inzwischen alt, macht eine Lehre zur Einzelhandelskauffrau in Bad Reichenhall.
"Nachts gehe ich nicht mehr alleine raus, nur noch mit Freunden, im Taxi oder mit meinem eigenen Auto." Die Klamotten des Täters vom 14. Juli beschreibt sie in allen Einzelheiten. Nun geht es darum, ob Sarah die Kleidungsstücke wieder identifizieren kann: Ein Kriminalpolizist zeigt sie dem Gericht.
Bei Prozessbeginn am Dienstag habe sie ein Foto von Christoph R. im Internet gesehen, sagt die junge Frau - "Heute hab' ich ihn noch nicht gesehen", so Sarah auf Nachfrage des Richters. Es sind sechs, vielleicht sieben Meter die Opfer und Angeklagten trennen. Und trotzdem: Richter Weidmann will, dass sie zur Identifizierung Christoph R. ins Gesicht sieht. Der Angeklagte blickt widerwillig ins Leere, erst nach einer Ermahnung des Richters kommt es zum Blickkontakt. Fünf Sekunden blickt Sarah ihm in die Augen - dann bricht sie in Tränen aus. Die Verhandlung wird kurz unterbrochen. Danach die Worte, die angesichts ihrer Emotionen fast überflüssig wären: "Der Blick, die Augen, die Ohren... Er ist es eindeutig!"
Dann muss Sarah von dem Moment sprechen, der ihr Leben verändert hat: "Er kam auf mich zu, hat ,Hallo' gesagt, ich hab' ,Hey' gesagt. Ein paar Sekunden später hab ich einen Stich in den Nacken gespürt."
"Hör auf, lass mich!", schrie Sarah. Sie ließ ihr Fahrrad fallen, versuchte sich mit dem linken Arm zu wehren. Der Täter ließ trotzdem nicht von ihr ab: Wortlos schlug und stach er weiter auf sie ein. Nach einem gezielten Stich ins linke Auge ging sie zu Boden: "Dann hab' ich mich zusammengekrümmt und mich totgestellt." Der Täter hatte aber noch lange nicht genug: An den Haaren zog er sie sofort wieder hoch und malträtierte sie weiter - Stiche in den Kopf, in die Hand, in die Brust. Der Täter versuchte auch ihr rechtes Auge zu attackieren: "Wenn ich jetzt nichts mache, dann sterbe ich", schildert Sarah ihre Gedanken.
Sarah flieht ohne einen Blick zurück, einfach hin zum nächsten Licht in dieser dunklen Nacht: "Ich hab' nur geschaut, dass ich überlebe." An einer Wohnungstür schrie sie um Hilfe, klingelte, klopfte. Dann kamen jene Zeugen ins Spiel, die bereits am ersten Verhandlungstag aussagten. Sie riefen den Rettungsdienst, Sarah war in Sicherheit.
Nun tritt Sarah ans Richterpult, zeigt ihre Narben im Gesicht, am Kopf und im Nacken. Besondere Schmerzen bereitet ihr eine große Narbe, die sich von der Brust bis über den Rücken zieht, 20 bis 30 Zentimeter lang. "Mein linkes Auge ist immer wieder entzündet", so Sarah.
Bei all ihren Schilderungen bleibt sie ruhig und sachlich. Tapfer, was die erst 18-Jährige an diesem Freitagvormittag in Traunstein leistet. Nach einer guten Stunde Vernehmung darf sie wieder nach Hause - raus aus dem Gerichtssaal, weg aus dem Blickfeld ihres mutmaßlichen Peinigers. Nun wird ihre Mutter als Zeugin erwartet.
UPDATE 9.40 Uhr: Eine Freundin von Sarah sagt aus
Es war zu erwarten: Das öffentliche Interesse am heutigen Verhandlungstag ist immens, die Zuschauerränge schon viele Minuten vor Prozessbeginn bis auf den letzten Platz gefüllt.
Durch die Vernehmung von Opfer Sarah ergibt sich heute auch eine etwas veränderte Sitzordnung. Verteidiger Baumgärtl schlug vor, dass Christoph R. direkt neben ihm Platz nehmen soll. So soll Sarah bei der Vernehmung keinen Blickkontakt zum Angeklagten haben müssen. Außerdem platzieren sich zwei erfahrene Polizeibeamte direkt um den Tisch des Angeklagten.
Die erste Zeugin sagte auch schon aus: Eine Freundin und frühere Arbeitskollegin von Sarah. Sie war ihre letzte Begleiterin vor der Tat und schildert den Abend. Nach einem Besuch in der "Gecko Lounge" trennten sich gegen 2.30 Uhr ihre Wege. Ihre Freundin wollte sich noch vergewissern, ob sie schon daheim sei: "Ja, in zwei Sek. War ein cooler Abend", so Sarah. Alles schien gut, doch am nächsten Tag eine SMS von Sarahs Cousine: "Sie wurde niedergestochen."
"Sarah ist eine Kämpferin und kommt erstaunlich gut damit zurecht", so ihre Freundin. Aber natürlich nagt die Nacht an ihr - beim Krampuslauf wurde sie von hinten erschreckt und brach in Tränen aus.
Vorbericht:
Geleugnet hat er bisher gar nichts - gestanden aber auch nicht. Christoph R. schwieg im Prozess um den Mord in der WM-Finalnacht 2014 bis jetzt eisern. Nützen wird ihm das wohl wenig, denn die Beweislast wurde mit jedem Prozesstag erdrückender:
Bisher spricht alles gegen Christoph R.
Die DNA-Spuren von Christoph R. konnten bisher nicht nur am Tatmesser nachgewiesen werden, sondern auch am Fahrrad von Opfer Sarah, das die Attacke schwer verletzt überlebte. Die Spurensicherung fand in seinem Schrank außerdem blutverschmierte Kleidung - unter anderem auf dem schwarzen Kapuzenpullover, den er in der Tatnacht getragen haben soll und mit dem ihn mehrere Zeugen gesehen hätten. Außerdem Schuhe, deren Sohlenabdruck zu den Spuren in den Blutlachen seiner Opfer passt.
Ein weiteres Indiz ist ein Taschenspiegel von Sarah. Auch diesen fanden die Ermittler bei den Habseligkeiten von Christoph R. in der Kaserne. Die Vermutung eines geladenen Kriminalpolizisten: Der Spiegel könnte für Christoph R. eine Art "Trophäe" dargestellt haben, wie man sie in einem seiner PC-Rollenspiele sammeln muss. Auch die gezielten Stiche in die Augen erklärt sich der Beamte mit dem Spiel - denn in der Version "Skyrim" ginge es genau darum: Monstern die Augen auszustechen. Kurz bevor er von der Kaserne betrunken losmarschiert sein soll, hatte er es den bisherigen Erkenntnissen zufolge noch gespielt. Ein düsteres Bild, das sich in den ersten beiden Verhandlungstagen abzeichnete.
Das Ausmaß der Verletzungen, die dem Opfer Alfons in der Tatnacht das Leben kosteten, erstaunte am Mittwoch sogar einen Gerichtsmediziner: Christoph R. soll sein Bundeswehr-Kampfmesser so tief in den Kopf des Opfers gerammt haben, dass die Spitze schon wieder herausragte - "solche Schädeldurchstiche sind für mich ein Novum", so der Sachverständige.
Sarah F. und ihre Mutter als Zeuginnen
Besondere Stärke wird heute vor allem eine Zeugin zeigen müssen: Sarah F., die bei der Attacke ein Auge verlor. In der Tatnacht war sie gerade einmal 17 Jahre alt. Auch wenn der Auftritt vor Gericht für sie unerträglich werden könnte, ihre Aussage ist für Richter Weidmann unerlässlich.
Begleitet wird sie von ihrer Mutter, die ebenfalls als Zeugin geladen ist. Auch weitere Kriminalpolizisten, Zeugen und Gutachter werden vor dem Traunsteiner Landgericht heute aussagen. Der Prozess beginnt um 9 Uhr.
+++ Wir berichten wie immer aktuell von den Ereignissen im Gerichtssaal +++